Cannabis als Heilmittel: Welche Kranken den Stoff schon jetzt verschrieben bekommen

Das Internet ist voll von Geschichten über Cannabis als Heilmittel. Doch wissenschaftliche Belege fehlen, Studien gibt es kaum. Das hält viele Mediziner davon ab, Cannabis zu verschreiben. In manchen Fällen kommen Extrakte der Pflanze aber bereits offiziell zum Einsatz.

  • Cannabis ist als Medikament noch nicht ausreichend getestet.
  • Patienten erhoffen sich mehr, als Medikamente auf Cannabisbasis können.
  • Deutschland gehört bald zu den führenden zehn Nationen was Cannabis als Medizin betrifft.

Krebs ist eine tückische Krankheit: Sie lässt Menschen bangen, verzweifeln, aber auch hoffen. Hoffen auf die Wirkung von Chemotherapien, Bestrahlungen – und manchmal auch auf medizinisches Cannabis. Wer im Internet Informationen zu der Pflanze sucht, findet vor allem eines: Versprechen. Das Größte davon: Cannabis könne Krebs heilen.

Das behauptet der Kanadier Rick Simpson. In unzähligen Videos, Büchern und in den sozialen Netzwerken predigt der Rentner von der heilenden Wirkung eines durch Cannabis gewonnenen Öls. Ihn selbst habe es von Hautkrebs befreit, lässt Simpson die Welt wissen. Seine Geschichte spricht sich herum – unter Betroffenen rund um den Globus. Todkranke Menschen behandeln sich in Eigenregie mit dem Hanf-Öl. Das große Problem an der Sache: Gleichzeitig empfiehlt Simpson, auf Schulmedizin zu verzichten.

Informationen oft nicht wissenschaftlich belegt

 „Rick Simpson ist kein Arzt, was er macht ist fahrlässig”, sagt Mediziner Franjo Grotenhermen im nordrhein-westfälischen Rüthen. Der Arzt ist Vorsitzender einer internationalen Arbeitsgemeinschaft für Cannabis als Medizin und setzt sich seit Jahren für die Anwendung der Pflanze in der medizinischen Therapie ein. Grotenhermen ist sich sicher: „Cannabis ist kein Wundermittel, es ist eine Möglichkeit.”

Zuverlässige wissenschaftliche Belege für die von Rick Simpson angepriesene krebsheilende Wirkung der Pflanze gebe es nicht, auch wenn in dem Bereich seit Jahrzehnten viel geforscht werde, sagt der Experte.

„Es gibt Hinweise, dass einige Wirkstoffe von Cannabis wie Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) krebshemmend sind, sie können das Ergebnis von Standardtherapien verbessern – bei Mäusen und Ratten.” Dass es beim Menschen auch so sei, könne man nur hoffen.

Cannabis noch nicht ausreichend getestet

Denn das tatsächliche Wissen über die Wirkung der sogenannten Cannabinoide bei Tumorerkrankungen beschränkt sich bisher fast nur auf Zellstudien und Tierversuche, die – zumindest in manchen Fällen – Anlass zur Hoffnung geben. Auf Basis vorklinischer Befunde hat der Biochemiker Manuel Guzmán in Spanien die weltweit erste Studie an Menschen durchgeführt und die Resultate 2006 veröffentlicht.

Der Forscher von der Universidad Complutense in Madrid verabreichte neun schwerstkranken Krebspatienten, die an sehr aggressiven Hirntumoren litten, THC über einen Katheter direkt in das Gehirn. Zumindest bei einigen Teilnehmern verringerte sich daraufhin die Wachstumsrate der Tumore – dabei traten dem Forscher zufolge kaum Nebenwirkungen auf. Guzmáns Veröffentlichung im „British Journal of Cancer” sorgte für Furore.

 

Pharmakologe Hinz warnt vor zu großen Hoffnungen

So wie die von Burkhard Hinz. Vor zwei Jahren brachte der Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Universitätsmedizin Rostock mit Hilfe von Cannabinoiden Krebszellen im Laborversuch zum „platzen”. Er schaffte es bundesweit in die Schlagzeilen und feuerte die Diskussion um die Heilkraft der Pflanze weiter an.

Der Pharmakologe bleibt aber vorsichtig: „In der Vergangenheit haben viele neue Antikrebsstrategien, die in präklinischen Untersuchungen hoffnungsvoll erschienen, den Sprung in die Klinik nicht geschafft, weil sie beim Menschen nicht die vermutete Wirkstärke zeigten”, erklärt Hinz.

Erforschung bleibt weiter wichtig

In der Pflanze sieht der Wissenschaftler perspektivisch einen interessanten Kandidaten für die Behandlung von Krebs – eventuell. Denn wie genau Cannabinoide im komplexen menschlichen Organismus wirken, bleibe trotz Guzmáns Studie weiter offen.

Angesichts der überschaubaren Datenlage könne man die weitere Entwicklung nur schwer prognostizieren. „Fakt ist, dass Cannabinoide im Labor nicht nur einen, sondern mehrere Angriffspunkte innerhalb der Entwicklung und Ausbreitung von Tumoren haben”, sagt Hinz. Für den Pharmakologen bleibt die Erforschung der Substanzen weiter wichtig.

Patienten fordern Cannabis

Trotz der Ungewissheit gibt es viele Krebspatienten, die Cannabis als Medizin ausprobieren wollen. „Man kann ihnen aber nicht sagen, kommen Sie in fünf bis 20 Jahren wieder, dann wissen wir mehr”, beschreibt Grotenhermen die Lage. Wenn jemand Cannabinoide ausprobieren will, verschreibt der Mediziner entsprechende Präparate. Allerdings nicht als hochkonzentriertes Cannabis- oder Hanf-Öl. Denn das ist, genauso wie der Anbau, Handel und Besitz von Cannabis, in Deutschland verboten.

 Seit 2007 können Patienten mit einer Sondergenehmigung der Bundesopiumstelle getrocknete Blüten erwerben. Patienten rauchen, inhalieren oder nehmen Cannabis oral ein. Derzeit haben nach Angaben der Bundesregierung mehr als 1000 Patienten eine Erlaubnis zum Erwerb von Cannabisblüten. Weil Krankenkassen die Kosten in der Regel nicht tragen, kann eine solche Therapie auf Dauer teuer werden. Deshalb hat im Oktober erstmals ein Patient in Deutschland eine Zulassung bekommen, Hanf für den eigenen Gebrauch selbst anzubauen. Ende 2016 gab es zwei solche Lizenzen.

Cannabis-Extrakte bereits als Wirkstoff anerkannt

Was eher unbekannt ist: Auch ohne eine Sondergenehmigung dürfen Ärzte zumindest die Cannabis-Wirkstoffe als Fertigarzneimittel an ihre Patienten verschreiben: Und zwar in Form des Cannabis-Extraktes Sativex oder des Cannabiswirkstoffs Dronabinol. Die Arzneimittel werden vor allem bei spastischen Symptomen und Multipler Sklerose verschrieben, aber auch bei chronischen Schmerzen, Übelkeit und Appetitlosigkeit. Bei solchen Problemen ist Cannabis ein bewährtes Mittel.Doch wieso sind Mediziner trotzdem so zurückhaltend, wenn es um Cannabis als Medikament geht?

„Die Ablehnung basiert in erster Linie auf Unsicherheit”, sagt Grotenhermen. Das Medikament kämpfe mit dem Stigma, das an der Pflanze haftet. Außerdem: „Für Onkologen ist die aktuelle Faktenlage zu den krebshemmenden Eigenschaften einfach noch zu lückenhaft.” Zu viele Fragezeichen gebe es schon bei Details wie der Dosierung: „Es ist nicht klar, was das optimale Verhältnis von THC und CBD ist”, sagt der Mediziner. Ärzte wüssten auch nicht, wie lange man Patienten mit den Wirkstoffen behandeln müsste – geschweige denn, wie hilfreich das Ganze am Ende wirklich sei.

Vielen Patienten helfen andere Medikamente besser

 Experten sind zudem skeptisch, was den Hype um die Pflanze betrifft. „Cannabis wirkt nicht so toll, wie viele denken”, sagt Palliativmediziner Lukas Radbruch von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Die schmerzlindernde Wirkung von Cannabis sei nicht stärker als bei einem schwachen Opioid und helfe auch nicht jedem schwerkranken Patienten.

Es gebe zwar Menschen, bei denen das psychoaktive THC gut wirke – etwa gegen Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit während einer Chemotherapie – doch vielen anderen Patienten würden sonstige Medikamente besser helfen. „THC macht müde und sorgt dafür, dass man seine Umwelt nicht mehr zu 100 Prozent wahrnimmt”, sagt Radbruch. Ein Knackpunkt für viele Ärzte und Schwerkranke.

Risiko der Einnahme

Man müsse wissen, dass es beispielsweise in den Niederlanden, wo der Anbau von Medizinalhanf erlaubt sei, hin und wieder zu Pilzbefall der Blüten komme. „Wenn man solches Cannabis raucht, kann das zu Lungenerkrankungen führen.” Hanfblüten zu inhalieren berge eben auch Risiken, THC in Tropfen, Kapseln oder als Spray sei dagegen unbedenklicher.

Außerdem gebe es individuelle Wirkungsunterschiede, auch die Suchtgefahr dürfe nicht unterschätzt werden. Der Palliativmediziner sieht in medizinischem Cannabis nicht mehr als ein Nischenprodukt, das nur für eine kleine Gruppe von Patienten wirklich geeignet sei.

Müssen bald Krankenkassen die Kosten für Cannabis übernehmen?

Ein Gesetzesentwurf der Bundesregierung, der im kommenden Frühjahr in Kraft treten soll, könnte die Nachfrage erhöhen. „Zur bestmöglichen Versorgung schwerkranker Menschen, denen nicht anders geholfen werden kann, sollen die Kosten für Cannabisarzneien künftig von ihrer Krankenkasse übernommen werden”, heißt es darin. Eine Ausnahmeerlaubnis wäre dann nicht mehr nötig.

Außerdem will der Bund eine staatliche Cannabisagentur aufbauen, die den Anbau überwacht. So solle die Qualität des Arzneimittels gesichert werden, sagt Grotenhermen: „Wenn das neue Gesetz in Kraft tritt, wird Deutschland zu den führenden zehn Nationen gehören, was Cannabis als Medizin angeht.”